50 Jahre Bangladesch: Was überwiegt?

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Eine passende Frage (vielleicht) zum 1. August: Was macht man, nachdem man Schweizer Botschafter in Bangladesch war? Eine von René Holensteins Antworten lautet: Ein Buch über das Land veröffentlichen. Ganz befreien kann er sich von persönlichen Vorlieben zwar nicht. Aber sein Zugang zu prominenten Bangladeschis sorgt für viele interessante Einblicke. 

Für die Schweiz und für Bangladesch brachte 1971 grosse politische Veränderungen. Jahre nach den meisten europäischen Ländern erteilte die Eidgenossenschaft ihren Frauen endlich das Wahlrecht. Bangladesch – seit 1947 Ostpakistan – errang in einem bitteren Krieg seine Unabhängigkeit. «Mein goldenes Bengalen», ein Gedicht von Rabindranath Tagore, drückt den Traum derjenigen aus, die dafür kämpften. Diese Anfangswörter der National- hymne verwendet René Holenstein als Titel seines Buches. Darin beurteilen vor allem Einheimische das in 50 Jahren Erreichte. 

Holenstein, promovierter Historiker, Staatsbeamter und NGO-Aktiver, war von 2017 bis 2020 Botschafter Berns in Dhaka. Dort lernte er viele Bangladeschis kennen, die Wesentliches zur Erfolgsgeschichte ihres Landes beigetragen haben. Etwa 20 davon lässt er in «Mein goldenes Bengalen» ausführlich zu Wort kommen. Ihre Erinnerungen und Meinungen – auch zur Gegenwart und Zukunft – verwebt Holenstein mit eigenen Erklärungen und Kommentaren. 

In vieler Hinsicht ist die Geschichte Bangladeschs tatsächlich jene eines grossen Erfolgs. 1971 lag das Land am Boden. Inzwischen sei Bangladesch «ein Musterbeispiel für erfolgreiche Entwicklungspolitik». In der Armuts- bekämpfung hat es jedenfalls grosse Fortschritte erzielt. Vor 50 Jahren unvorstellbar, exportiert Bangladesch heute Lebensmittel. Viele UN-'Blauhelme' entstammen dem Land; ihm verdankt die Welt auch den wunderbaren Tag der Muttersprache. Und während etlichen Demokratien weltweit immer noch keine Regierungschefin vorstand, hat das überwiegend muslimische Bangladesch bereits zwei solche ins Amt gewählt. 

Wie war das alles möglich? Und wie steht’s heute mit der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit, die die Unabhängigkeitsbewegung so leidenschaftlich hochhielt? «Mein goldenes Bengalen» führt vielschichtig in die Herausforderungen des Landes ein. Dabei lernt man auch wichtige Partnerorganisationen unserer Stiftung kennen. Dazu zählt BRAC, die weltgrösste NGO. Beim Thema Gerechtigkeit und Inklusion reden mehrere von Holensteins Zeitzeug/innen auch über die Santals. Mit dieser ethnischen Minderheit arbeiten wir seit längerem erfolgreich zusammen. Dieses Buch eignet sich also auch für jene, die das Umfeld unserer Programme in Bangladesch besser verstehen wollen.  

Im Laufe der 250 Seiten lässt der Autor allerdings einige Vorlieben durchblicken. Über Schweizer NGOs wie EvB/Public Eye und Helvetas schreibt er gern. Für beide Organisationen war bzw. ist Holenstein aktiv. Mit dem Privatsektor hat er’s nicht so. Journalismus nimmt im Buch mehr Platz ein, als die Schulbildung; Museen sind Holenstein wichtiger als Sport. Schwächen weist auch die Präsentation auf. Wünschenswert wäre eine Landkarte gewesen, die man ohne Lupe lesen kann. Die «Gespräche» des Buchtitels sind eigentlich Monologe. Der Diplomat hat sie alle eigenhändig übersetzt. Das ist zwar bewundernswert, aber die Texte wirken manchmal etwas holprig. 

Das ist allerdings ‘Meckern auf hohem Niveau’: Der Ex-Botschafter hat eine sehr lesenswerte Gedankensammlung zusammengetragen. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Sprachversionen folgen. Denn bei Holensteins Befragten überwiegen neben historischem Stolz auch Zukunftssorgen. Etliche Grundpfeiler der blutig errungenen Freiheit in Bangladesch seien bedroht, einige bereits verschwunden. Darüber sollten nicht nur Deutschsprachige lesen können.

Vielleicht ist Holensteins nächstes Werk eine ähnlich aufgebaute Analyse der Schweiz? 

René Holenstein, «Mein goldenes Bengalen»: Gespräche in Bangladesch. Chronos Verlag, Zürich, 2021. Gebunden, 256 S., 32 Abb. s/w. ISBN 978-3-0340-1643-8